Zukunftsvisionen an eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe aus Sicht der Selbsthilfe

3 Fragen an Benita Eisenhardt

Spätestens seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes im Jahr 2021 ist es unsere gemeinsame Aufgabe, eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu gestalten, die mit ihren Leistungen konsequent für alle Kinder, Jugendlichen und Familien mit und ohne Behinderung da ist.

Mit der Anforderung, inklusive Ansätze und Schutzmaßnahmen zu schaffen, um die individuellen Bedürfnisse und Potenziale jedes Kindes zu berücksichtigen, gehen für alle Träger und Fachdienste auch neue Herausforderungen einher.

Doch was braucht eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe aus Sicht von Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung konkret, um ihren Bedarfen in all ihrer Heterogenität gerecht werden zu können?

Das haben wir Benita Eisenhardt gefragt. Sie ist Referentin für Projekte und Entwicklung im Kindernetzwerk e. V., dem Dachverband der Selbsthilfe für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen.

Im Kurzinterview spricht sie mit uns über Zukunftsvisionen an eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe aus Sicht der Selbsthilfe und gibt Anregungen für Frachkräfte, wie sie mit der Komplexität der neuen An- und Herausforderungen der Gesetzgebung umgehen können. Einen vertiefenden Einblick zu diesem Thema und ihre besondere Expertise bringt Benita Eisenhardt im Abschlussvortrag unseres hybriden Fachkongresses vom 12.-13. September 2024 in Aachen ein.

Die konkrete Ausgestaltung eines inklusiven Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist in einigen Bereichen noch unklar. Welchen Bedarf sehen Sie in der (Weiter-)Entwicklung der Angebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen besonders?

„Mit dem Reformprozess verbinden die Familien die Hoffnung, dass sich die bisher teils noch oft getrennten Lebenswelten von jungen Menschen mit Behinderungen, also Kita, Schule, Hort und Freizeitstätten sowie alle weiteren Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, neu und inklusiv ausrichten. Auch erhoffen sich die Familien, dass dann die Teilhabeleistungen besser auf ihren Alltag zugeschnitten sind und dass sich nicht zuletzt bürokratische Prozesse vereinfachen. Es gab aber auch Bedenken dahingehend, dass Errungenschaften des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) verloren gehen könnten, wie der Haltungswechsel (vom Fürsorgesystem zur Selbstbestimmung), der personenzentrierte Ansatz oder die ICF-basierte Bedarfserfassung.

Im Zuge des Bundesbeteiligungsprozesses „Gemeinsam zum Ziel – Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ des Familienministeriums haben wir im Kindernetzwerk den ThinkTank „Inklusives Kinder- Jugendhilfegesetz aus Perspektive der Selbsthilfe“ umgesetzt, um Familien mit einem behinderten Kind in ihrer Heterogenität und mit eigener Stimme an den Diskursen teilhaben zu lassen. Im ThinkTank konnten die Familien einschließlich der jungen Selbsthilfe untereinander diskutieren, was aus ihrer Sicht bei der Gesetzesreform beachtet werden sollte. Das Abschlusspapier mit vielen Beispielen und Zukunftsvisionen, wurde in den Bundesbeteiligungsprozess eingebracht.“

Welche Veränderungen erhoffen sich Eltern von Kindern mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen in Bezug auf die ihnen zustehende Unterstützung?

„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern befinden sich noch in der Entwicklung, daher müssen sich die Leistungen zur Teilhabe für Kinder und Jugendliche an dieser Lebensphase ausrichten, insbesondere auch, weil eine frühe Förderung die Auswirkungen von Behinderungen vermindern oder sogar beseitigen kann. Behinderungen ergeben sich durch die Wechselwirkungen zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Damit die jungen Menschen gleichberechtigt teilhaben können, brauchen sie und ihre Familien individuell passende Unterstützungsleistungen, die sich an ihrer jeweiligen Lebenswelt ausrichten.

Bei Kindern mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und Pflegebedarf ist dies bisher oft nicht möglich. Wenn dann auch noch Kita und Schule nicht verlässlich besucht werden können, führt das zu Schwierigkeiten, die Erwerbstätigkeit mit der Versorgung und Betreuung zu vereinbaren. Nicht zuletzt können dadurch dann auch die Bedürfnisse von weiteren Geschwisterkindern aus dem Blick geraten. Teilhabeleistungen für Kinder mit Behinderungen müssen daher das ganze Familiengefüge berücksichtigen und die Familie stärken. Konkrete Beispiel und Zukunftsvisionen aus dem ThinkTank finden Sie über das Padlet.“

Wir beobachten, dass viele Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe besorgt sind, den Herausforderungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes nicht gerecht werden zu können. Welche Ratschläge haben Sie für Fachkräfte, um mit der Komplexität der neuen Anforderungen umzugehen?

„An vielen Beispielen können wir sehen, wie die inklusiven Anforderungen aus dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz bereits in der Praxis gelingend umgesetzt werden. Es lohnt sich, sich hier an den good-practice-Beispielen zu orientieren. Das Wichtigste ist, dass die Fachkräfte sich als Teil eines unterstützenden Netzwerks verstehen. Denn insbesondere komplexe Fragestellungen oder Problemlagen lassen sich nicht mehr allein aus einer einzelnen fachlichen Sicht beantworten. Die vielfältigen Versorgungsbedarfe der Kinder erfordern eine interdisziplinäre und interstrukturelle Vernetzung – auch in Bezug auf den Kinderschutz.

Auch die Familien selbst sind in den Austausch einzubeziehen. Denn während Fachkräfte jeweils nur ihren eigenen Zuständigkeitsbereich im Blick haben, sind es die Familien, die weiterhin in alle Bereiche involviert sind, und bei denen die Schnittstellen zwischen den Sektorengrenzen des Sozialsicherungssystems im Alltag überwunden werden müssen. Auch in einem inklusiven SGB VIII bleiben die Schnittstellen zu Gesundheit und Pflege erhalten. Erst die Zusammenführung der unterschiedlichen Betrachtungsweisen aus den Bereichen Gesundheit, Pflege, Pädagogik und ggf. noch weiteren Perspektiven mit der individuellen Lebenswelt des Kindes, ermöglichen eine ganzheitliche Unterstützung.

Nur wenn die jungen Menschen mit Behinderungen und ihre Familien beteiligt werden, können ihre Sorgen, Ängste und Wünsche berücksichtigt werden. Meist wissen sie am besten, welche Konzepte und Lösungsansätze in ihrer jeweiligen Lebenssituation umsetzbar sind. Letztendlich braucht es Begegnungen und Zeit, um Erfahrungen zu sammeln und zu lernen mit der Diversität der unterschiedlichen Bedarfslagen dieser Kinder und ihrer Familien umzugehen. Gerne stehen wir auch als Kindernetzwerk den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe beratend und unterstützend zur Seite.“

Herzlichen Dank!

Benita Eisenhardt ist Referentin für Projekte und Entwicklung im Kindernetzwerk e. V., dem Dachverband der Selbsthilfe für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Als Dipl.-Rehabilitationspädagogin und Case Managerin (DGCC) beschäftigt sie sich seit Jahren mit den Schnittstellen Gesundheit, Pflege, Teilhabe und Förderung von Kindern mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und Pflegebedarf.

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