Der Titel Ihres Vortrags lautet „Zwischen Pride und Prejudice: Einblicke in Lebenswelten queerer Jugendlicher“. Ohne zu viel vorwegzunehmen: Was bedeutet dieses angedeutete Spannungsfeld für den Alltag queerer junger Menschen? Was macht „queere Lebenswelten“ aus und mit welchen besonderen An- und Herausforderungen sind die Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag konfrontiert?
Geschlechteranforderungen, die auf traditionellen Rollenvorstellungen fußen, spielen für alle Kinder und Jugendlichen eine große Rolle. Wenn sie diese Anforderungen nicht erfüllen wollen oder können, geraten sie schnell unter Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck. Gerade Fragen der eigenen Identitätsfindung schaffen oft Verunsicherung. Kann es sein, dass ich etwas mit queeren Themen zu tun habe? Was bedeutet das für mein Leben? Bin ich willkommen mit dem, was ich empfinde? Mit wem kann ich darüber sprechen? Zwar gibt es heute mehr Möglichkeiten, sich zu informieren, aber immer noch wenig Unterstützung im sozialen Umfeld. Deshalb ist für die meisten die Zeit des Coming-out immer noch eine große Herausforderung und Belastung.
Viele befragte Jugendliche berichten auch von Diskriminierungserfahrungen in Familie, Schule und Öffentlichkeit. In Sozialpolitik und Forschung werden sie daher immer wieder als besonders verletzliche (vulnerable) Gruppen beschrieben. Ihr Verletzungsrisiko steigt, wenn sie durch Mehrfachzugehörigkeiten weiteren Diskriminierungsformen ausgesetzt sind. Hier ist es besonders wichtig, mit den Stärken und Ressourcen dieser Kinder und Jugendlichen zu arbeiten.
Weshalb ist es wichtig, dass sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe mit dem Thema Queerness auseinandersetzen?
Die Ehe für alle 2017, die neue Geschlechtsoption „divers“ im Personenstandsrecht Ende 2018 und die Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz haben bewirkt, dass das Thema Geschlechtervielfalt in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird. Auch Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe befragen ihre eigene Praxis neu. Welche Aspekte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt spielen für die Kinder- und Jugendhilfe eine besondere Rolle (Stichwort Vulnerabilität)? Wo sehen wir Handlungsbedarfe in unserer fachlichen Arbeit? Welches Wissen brauchen wir, um das Thema Queerness inklusiv in unseren Handlungsfeldern zu berücksichtigen?
Über die Neufassung von Paragraf 9,3 im SGB VIII besteht seit 2021 der unmittelbare Gesetzesauftrag, „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern“. Das konkrete Handeln von Fachkräften lässt Jugendliche unmittelbar spüren, ob ihre von der Kinderrechtskonvention garantierten Rechte – wie etwa Diskriminierungsfreiheit oder Mitsprache – auch eingelöst werden oder nur auf dem Papier stehen.
Sie sind für QUEERFORMAT, die Fachstelle Queere Bildung in Berlin tätig. Welche Bedarfe sehen Sie im Hinblick auf die Kinder- und Jugendhilfe in der Auseinandersetzung mit und Weiterbildung zu dem Themenfeld aktuell? Was raten Sie Fachkräften ganz konkret?
Wir registrieren ein verstärktes Interesse aus der Kinder- und Jugendhilfe, sich mit queeren Themen fachlich auseinanderzusetzen, weil sie von Jugendlichen selbst verstärkt eingebracht werden. Dabei geht es sehr häufig um Fragen von Geschlechtsidentität und die Auseinandersetzung mit Geschlechteranforderungen. Vor allem Transgeschlechlichkeit und Nichtbinarität sprechen pädagogische Fachkräfte aus Schulen und der Jugendhilfe immer wieder als besonders wichtig an, weil sie ihnen im pädagogischen Alltag begegnen. Fachkräfte sollten all ihre Möglichkeiten nutzen, Geschlechterviefalt aktiv sichtbar zu machen, sie sollten Selbstdefinitionen respektieren und Selbsterprobungen ermöglichen.
Wichtig ist auch, bei Diskriminierungen zu intervenieren und generell die eigene pädagogische Haltung kontinuierlich zu reflektieren. Wie kann ich soziale und kulturelle Normen diskriminierungskritisch hinterfragen, eigene Normalitätsvorstellungen und Verhaltensmuster überprüfen? Wie löse ich mich von Vorurteilen und Zuschreibungen, die durch gesellschaftliche Machtverhältnisse aufrechterhalten werden? Wie kann ich soziale Vielfalt in ihren intersektionalen Verschränkungen wahrnehmen, anerkennen und wertschätzen? Wie übe ich neue Verhaltensweisen ein, um queere Jugendliche zu unterstützen und empowernd zu begleiten?
Herzlichen Dank!