Was tun bei vermuteter (Selbst-)Gefährdung von Jugendlichen?
3 Fragen an Katja Giesen
Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen stellt pädagogische Fachkräfte immer wieder vor große Herausforderungen. Denn oft gehen diesem Verhalten tiefgreifende psychische Belastungen wie emotionale Überforderung, starke Ängste oder traumatische Erfahrungen voraus.
Eine besondere Schwierigkeit liegt in einer bei Jugendlichen häufig aufkommenden Ambivalenz: Einerseits machen sie durch ihr Verhalten auf eine innere Not aufmerksam, andererseits lehnen sie professionelle Hilfe ab oder begegnen ihr mit Misstrauen.
Für Fachkräfte entstehen in dieser Dynamik große Unsicherheiten – sowohl im direkten Umgang mit den betroffenen Jugendlichen als auch in der Kommunikation mit Erziehungsberechtigten und im Einschätzen möglicher Gefährdungen.
Eine Fachberatung hilft, einen Fall professionell einzuschätzen, die Dynamiken und eigene Haltung zu reflektieren, konkrete Handlungsstrategien zu entwickeln und bei der Vernetzung mit spezialisierten Einrichtungen oder Angeboten.
In diesem Kurzinterview sprechen wir mit Katja Giesen, Diplom-Sozialpädagogin und erfahrene Kinderschutzfachkraft, über ihre Rolle als Fachberaterin, ihre Erfahrungen aus der Arbeit mit (selbst-)gefährdeten Jugendlichen und über Anforderungen an zeit- und altersgemäße Hilfeangebote.
Bei unserem diesjährigen Kinderschutzforum bietest du den Workshop „Fachberatung bei vermuteter Gefährdung von Jugendlichen durch andere Personen oder selbstgefährdende Verhaltensweisen“ an. Mit welchen Formen von (Selbst-)Gefährdung von Jugendlichen werdet ihr im Kinderschutz-Zentrum typischerweise konfrontiert?
„Wir werden häufig bei Fragestellungen rund um das Thema Selbstverletzung, durch das sogenannte „Ritzen“ und Suizidversuche bzw. Äußerungen, die auf Suizidalität von Jugendlichen hinweisen, angesprochen. Bei solchen Themen machen Fachkräfte, Angehörige oder Freund*innen sich Sorgen.
Ich würde das Thema selbstgefährdende Verhaltensweisen allerdings weiter fassen wollen. Jugendliche können sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise selber schädigen und in Gefahr bringen. Neben den genannten Formen sollten hierunter auch Verhaltensweisen wie gefährdender Substanzgebrauch, Schulabsentismus, übermäßiger Medienkonsum, Isolation und gefahrensuchende Verhaltensweisen gefasst werden, um nur einige Bereiche aufzuzählen.
Gefahrensuchendes Verhalten im Jugendalter ist als alterstypisches Verhalten zu betrachten und ist eng mit der Hirnentwicklung verknüpft. Es gibt hier eine relativ hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Wir können das beispielsweise an einem milderen Jugendstrafrecht erkennen. Deshalb passiert es, dass Warnsignale übersehen oder bagatellisiert werden.
Gleichzeitig können Jugendliche sich durch diese Verhaltensweisen massiv in ihrer Entwicklung schädigen und ihr eigenes Leben bedrohen. An dieser Stelle kann Hilfe von außen notwendig werden, auch wenn Jugendliche nicht aktiv darum bitten.“
Kinderschutz ist Beziehungsarbeit und Kommunikation ist eine ganz zentrale Kompetenz für die Beratungsarbeit in Gefährdungsfällen. Ohne inhaltlich schon zu viel zu deinem Workshop zu verraten – was sind aus deiner Erfahrung die wichtigsten Kriterien für die Gesprächsführung der Fachpersonen mit den Jugendlichen und auch deren Sorgeberechtigten?
„Naja, ganz grundsätzlich und ohne zu viel zu verraten: das Wichtigste ist, die Jugendlichen und deren Familien in ihrer subjektiven Situation und Emotionalität ernst zu nehmen und genauso ihre sehr individuellen Strategien, um mit den zugrunde liegenden (psychischen) Belastungen zurechtzukommen. Das schädigende Verhalten gleichzeitig klar als solches benennen und die Betroffenen darin unterstützen, andere Lösungsideen zu entwickeln. Es ist wichtig, einen Umgang mit den Befürchtungen zu finden und diesen den Betroffenen gegenüber transparent zu machen.
Ich freue mich, dass ihr in der Frage den Beziehungs- und Kommunikationsaspekt explizit benennt. In Fachberatungsprozessen ist es sehr wichtig darauf zu achten, wer sich Sorgen macht und wer von wem angesprochen wurde. Kinder und Jugendliche wählen achtsam, wem sie sich anvertrauen und ob überhaupt. Häufig wählen Jugendliche dafür Peers, das zeigt sich in Praxis und Forschung. Bei der Unterstützung der Jugendlichen sollten diese bewusst gewählten Beziehungen berücksichtig und wertgeschätzt werden. Im Falle von Jugendlichen, die Informationen über ihre Peers weitergeben, sollten wir auch berücksichtigen, wie es diesen Jugendlichen mit der Sorge um die betreffende Person geht.“
Wir richten bei dem Fachkongress bewusst den Blick auf die Lebenswelten von Jugendlichen, da diese als Zielgruppe des Kinderschutzes häufig zu wenig Beachtung finden. Würdest du sagen, dass es für Fachkräfte in der Praxis besonders herausfordernd ist, mit der Dynamik der Lebenswelten von Jugendlichen und den entsprechenden zeit- und altersgemäßen Hilfeangeboten Schritt zu halten und eben nicht den Anschluss zu verlieren?
„Tatsächlich bin ich mir da nicht sicher. Entwicklungsbedingt haben Jugendliche eher ein geringeres Bedürfnis, ihre Lebenswelt mit Erwachsenen zu teilen. Sie verbringen ihre freie Zeit lieber für sich oder mit Menschen, die ihre Interessen teilen. Gleichzeitig wird die Welt in Schule und auf dem Arbeitsmarkt herausfordernder und das soziale Miteinander steht institutionell eher hinter dem Leistungsanspruch. Abgrenzung als entscheidende Entwicklungsaufgabe bedingt ja auch, dass Jugendliche sich abgrenzen und andere Dinge als die ihrer Eltern gut finden wollen. Über Musik, Aussehen und Kleidung ist das in der neueren Vergangenheit schwieriger geworden, über digitale Medienwelten wie Social Media gelingt das sehr gut.
Dennoch sind Jugendliche ambivalent und durchaus bereit „Hilfe“ anzunehmen, wenn es ihnen sinnvoll erscheint. Machen wir es ein bisschen flapsig: Taschengeld, Fahrstunden, Schlafplatz oder Nahrungsversorgung werden in der Regel von Jugendlichen gerne angenommen. In den letzten Jahren haben wir über Corona unsere Netzwerke zu Jugendlichen allerdings schlecht gepflegt. Neben dem, was in Schulen an Kontakt, Beziehung und Interaktion nicht stattgefunden hat, gab es auch viel weniger Möglichkeiten in der Freizeit, in Vereinen, der offenen Jugendarbeit, Kultur oder anderen Begegnungsorten vertrauensvolle Beziehungen zu Erwachsenen aufzubauen oder über schwierige Phasen hinweg zu halten.
Ob unsere Hilfsangebote anders gestaltet sein sollten oder wir andere Wege brauchen, müssen wir die Jugendlichen direkt fragen. Ein Tipp, den ich mal von einer Jugendlichen bekommen habe, war, wir bräuchten angesagte Influencer*innen, die auf uns hinweisen. Diesen „neuen“ jugendkulturellen Sprachrohren und Kommunikationsweisen sollten wir uns anpassen und sie als neue Ressourcen wahrnehmen, auch wenn es aus Perspektive von Erwachsenen vielleicht nicht immer gefällt.
Also, jetzt, wo ich darüber nachdenke… Doch, es ist besonders herausfordernd. Wir als Fachkräfte aber auch die politisch Verantwortlichen sollten darauf achten, das Netzwerk zu den Jugendlichen zu pflegen und weiter auf- und auszubauen. Eine gute Netzqualität ist schließlich die Voraussetzung für gute Verbindungen.“
Herzlichen Dank!
Katja Giesen ist Diplom-Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin, Supervisorin und Insoweit erfahrene Fachkraft. Sie ist als Fachberaterin und Therapeutin im Kinderschutz-Zentrum Aachen und seit vielen Jahren als Fortbildungsreferentin bei den Kinderschutz-Zentren tätig. Ihre besondere Erfahrung bringt sie in einem Workshop beim 15. Kinderschutzforum vom 18.-19. September 2025 in Mainz und Online ein.