Prävention kann nur dann wirksam sein, wenn sie Kinder und Jugendliche auch wirklich erreicht. Wie gelingt das aktuell Ihrer Meinung nach? Welche Effekte erreichen die Kinder und Jugendlichen aus Ihrer Sicht und würden sie als besonders wichtig hausstellen?
„Im Präventionsdiskurs gibt es einen weitgehenden Konsens, dass wir Kinder und Jugendliche besser erreichen, wenn sie sich aktiv an der Gestaltung einer präventiven Kultur beteiligen können. Dafür sind aus meiner Sicht u.a. drei Aspekte besonders wichtig:
Erstens müssen Einrichtungen über Ressourcen verfügen, die es Ihnen erlauben, sich nachhaltig in eine „partizipationsfähige“ Richtung zu entwickeln. Wenn Fachkräfte fehlen, Schichten nicht besetzt werden können, die Bezahlung schlecht ist und die pädagogischen Bezugspersonen überlastet sind, dann wird es schwierig mit der Partizipation.
Zweitens muss von Träger- und Leitungsseite erkannt werden, dass mit einer „auferlegten“ Partizipation auch das Gefühl einer „Entmachtung“ der Fachkräfte gegenüber den von ihnen betreuten Kindern und Jugendlichen einhergehen kann. Auch die Fachkräfte brauchen Unterstützung, damit sie „Lust auf Partizipation“ entwickeln können.
Drittens müssen auch Kinder und Jugendliche „Lust auf Prävention“ entwickeln können. Das funktioniert am ehesten dann, wenn neben ihren Schutzbedürfnissen auch ihre Autonomiebedürfnisse ernst genommen werden. Das ist eine pädagogische Gratwanderung, für die es zuverlässige Räume der Reflexion braucht.“
Prävention ist ja ein schillernder Begriff. Mit ihm sind große Hoffnungen, aber auch eine Vielzahl ganz unterschiedlich wirkender Arbeitsansätze verbunden. Wo sehen Sie aktuell Bedarf und Ansatzpunkte zur Stärkung präventiver Praxis?
„Ich denke, dass es nach wie vor sehr wichtig ist, Organisationen zu vermitteln, dass Prävention nicht im Schreiben und „Abarbeiten“ eines Schutzkonzepts besteht. Ich bin einerseits beeindruckt, wie viele Institutionen mit enormem Engagement versuchen, präventive Strukturen zu verankern. Dabei ist es von größter Bedeutung, dass der systemische Charakter institutioneller Prävention nicht nur im akademischen Diskurs, sondern auch in der Praxis verstanden und verinnerlicht wurde. Andererseits beobachte ich aber auch eine Art „Über-Ich-Steuerung“ bei der Umsetzung präventiver Maßnahmen. Diese ist verbunden mit dem Anspruch, unbedingt „alles“ richtig machen zu müssen.
Ich glaube, dass sich Einrichtungen manchmal von normativen Präventionsansprüchen lösen und – am besten mit externer Begleitung – sehr konzentriert darauf schauen sollten, welche spezifischen Präventionsanforderungen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihren eigenen Reihen aufdrängen. Eine Klärung der Frage, was jetzt gerade wichtig ist, entlastet von dem Gefühl, alle möglichen Präventionsbaustellen in Angriff nehmen zu müssen (nur weil diese in Broschüren und Arbeitshilfen aufgelistet sind).“
In Ihrem Schlussvortrag „Gewaltprävention statt Schutzkonzepte – Dimensionen eines systemisch und prozesshaft orientierten Kinderschutzes in pädagogischen Institutionen“ schlagen sie ja schon einen kritischen Unterton an – obwohl man ja an Schutzkonzepten gerade nicht vorbeikommt. Neugierig hat uns das „statt“ in Ihrem Vortragstitel schon gemacht. Ohne zu viel zu verraten – was meinen Sie damit und worauf wollen Sie in Ihrem Vortrag hinaus?
„Das hat etwas mit dem oben erwähnten normativen Verständnis von institutioneller Prävention zu tun. Und ich würde gerne die Frage nach dem Verhältnis von „Schutz“ und „Prävention“ aufwerfen. Allen, die mit der Materie befasst sind, ist klar, dass es hier nicht nur um Schutz geht, sondern um komplexe und ziemlich vielversprechende Prozesse der Organisationsentwicklung. Kindern und Jugendlichen geht es ja auch nicht nur darum, dass sie geschützt werden, sondern dass sie sich in pädagogischen Kontexten gut weiterentwickeln können. Daher empfinde ich es immer wieder irritierend, wenn die Vielfalt präventiver Anforderungen auf den Schutzbegriff reduziert wird.
Angesichts der Katastrophe der deutschen Heimerziehung und der entsetzlichen Missstände in Schulen und Internaten in der Vergangenheit geht es mir natürlich keineswegs darum, die Bedeutung des Schutzes vor Gewalt „kleinzureden“. Aber gerade weil wir verstanden haben, dass der Schutz keine isolierte Qualität ist, sondern lebendiger pädagogischer Systeme bedarf, plädiere ich für eine Erweiterung der Begrifflichkeiten und Konzepte im Bereich der Prävention. Ohne zu viel zu verraten: Der Begriff der Ethik könnte uns hier enorm weiterhelfen…“
Vielen Dank, wir freuen uns schon sehr auf Ihren Vortrag!