Laut der Kriminalstatistik 2023 hat sich in Deutschland die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen besaßen, herstellten, erwarben oder weiterverbreiteten seit 2018 verzwölffacht. Bei aller Vorsicht beim Blick auf solche Statistiken, worin sehen Sie den starken Anstieg der Fallzahlen sex. Peergewalt im Netz in den letzten Jahren begründet?
„Sie haben es selbst gesagt: Kriminalstatistiken sind mit Vorsicht zu genießen. Sie zeigen nur das Hellfeld zur Anzeige gebrachter Fälle. In der genannten Zahl drückt sich aus, dass etwa der Besitz sogenannter kinderpornografischer Inhalte seit 2021 und trotz geplanter erneuter Gesetzesänderung in der Polizeiliche Kriminalstatistik 2023 als Verbrechen eingestuft wird. Das verändert das Anzeige- und Ermittlungsverhalten auch mit Blick auf Jugendliche und begründet den Anstieg zum Teil.
Darüber hinaus sind Jugendliche im Besitz von Missbrauchsabbildungen, weil beispielsweise Bilder eines Dates als Trophäen verbreitet, oder kinderpornografische Inhalte als Schocker geteilt werden, oder weil junge Menschen zwecks sexueller oder der Befriedigung von Machtfantasien Missbrauchsabbildungen suchen, herstellen und konsumieren. In Gesprächen und Studien berichten junge Menschen immer wieder, dass der grenzverletzende Versand von Nacktbildern oder die Forderung danach sehr verbreitet seien. Teilweise wird das Einfordern sexueller Gefälligkeiten in Beziehungen als normal erlebt.
Es gibt einen medienpsychologischen Ansatz, der davon ausgeht, digitale Kommunikation begünstige, eigene Wünsche auf das Gegenüber zu projizieren. Wenn zusätzlich Gruppennormen etwa die Zurschaustellung von sexuellem Aktionismus idealisieren, könnte man zumindest fragen, ob digitale Kommunikation grenzverletzende Tendenzen begünstigt, weil Empathie hinter der eigenen Vorteilnahme verblasst. Das nimmt übergriffige Jugendliche keineswegs aus der Verantwortung für ihr Handeln. Schließlich verhält sich der größere Teil der Jugendlichen weiterhin nicht so.
Möglicherweise spiegelt sich in dem vermeintlichen Anstieg der Fallzahlen aber lediglich, was früher ohne Videofizierung passierte, nämlich sexualisierte Peergewalt, die undokumentiert blieb.“
Das Spektrum sexualisierter Gewalthandlungen gegen Kinder und Jugendliche im Kontext digitaler Medien, gerade auch beim Thema Peergewalt, ist enorm groß. Es gibt viele Mischformen und Graubereiche, die für Fachkräfte häufig nur sehr schwer einzuordnen sind. Wo liegen aus ihrer Sicht die Ambivalenzen und Gradwanderungen beim Thema?
„Gerade wenn Gewalt nicht richtig eingeordnet wird, wird oft als erstes gefragt: Wie hat sich die gewaltbetroffene Person verhalten? War sie unvorsichtig? Was hat sie gepostet? Warum ist sie zum Date gegangen, bei dem sie vergewaltigt wurde? Das finde ich verstörend, auch wenn solche Einordnungsversuche von Fachkräften psychodynamisch mit Übertragungen eigener Ohnmacht auf Betroffene erklärt werden können.
Die Gratwanderung besteht also im Wesentlichen darin, trotz der diffusen Bedrohungslage, zu der mediatisierte sexualisierte Gewalt führt, emphatisch mit Betroffenen zu bleiben und Hilfen hieran auszurichten.“
Was können Fachkräfte tun, um junge Menschen bestmöglich zu unterstützen?
„Sie können zuerst an ihrer eigenen Haltung arbeiten. Leider sind sogar Teilbereiche der Prävention in problematischer Weise risikoorientiert. Ich habe neulich erst wieder den Teaser für eine Fachveranstaltung gesehen, in dem die Referentin mit der Behauptung begann, „Jugendliche sind sich der Risiken digitaler Medien oft nicht bewusst“. Selbst wenn das stimmte, verlagert es den Fokus auf die Selbstverantwortung Betroffener und nicht darauf, dass jugendliche Gewaltausübende strategisch vorgehen, um Vorsicht und Widerstände zu überwinden. Eine klare Haltung sieht so aus: Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz für junge Menschen. Wenn Du also Gewalt erlebst, hast Du keine Schuld und ich unterstütze Dich!
Fachkräfte haben einen eigenen Beratungsanspruch bei Expert*innen. Psychosoziale Hilfen haben Vorrang vor einer Strafanzeige. Alle Handlungsschritte sollten mit Betroffenen abgestimmt, oder zumindest auf Konsequenzen für sie überdacht werden. Betroffene bekommen eine vertrauenswürdige Fachkraft zur Seite gestellt, die sich als Anwältin ihrer Bedürfnisse während sämtlicher Interventionen versteht.
Aufgrund der digitalen Aspekte der Gewalt sind Safe Spaces nicht Orte, die unerreichbar für Gewalt sind – wie soll das gehen, wenn es möglich ist, Betroffenen jederzeit nochmal die Missbrauchsdarstellung zur Einschüchterung zuzusenden. Ein Safe Space ist ein Ort, an dem die Solidarität mit Betroffenen dazu führt, dass ihre Rechte verteidigt werden und Schutz immer wieder neu hergestellt wird. Dem Gewaltnetzwerk müssen Beziehungsnetzwerke entgegentreten, in denen Betroffene sich wieder als wirkmächtig erleben können.“
Herzlichen Dank!