Sexuelle Gewalt durch Geschwisterkinder

3 Fragen an Esther de Vries

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche findet am häufigsten im familiären Umfeld statt. Betroffene Kinder erleben die Taten nicht nur als Grenzverletzung, sondern auch als tiefen Vertrauensbruch innerhalb der eigenen Familie.

Ein besonders emotionales und weitgehend tabuisiertes Thema ist das sexuell grenzverletzende Verhalten unter Geschwistern, das auch in der (Fach-)Öffentlichkeit nur wenig Beachtung findet. Doch warum fällt es so schwer, über dieses Thema zu sprechen? Welche spezifischen Dynamiken spielen hier eine Rolle und wie können betroffene Familien angemessen unterstützt werden?

Über diese wichtigen Fragen sprechen wir im Kurzinterview mit Dipl.-Sozialpädagogin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Esther de Vries. Aus ihrer jahrzehntelangen Arbeit im Kinderschutz-Zentrum Osnabrück bringt sie eine umfangreiche Expertise in diesem Themenfeld mit. Sie bietet dort u. a. seit 2014 ein ambulantes Therapieangebot für sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche an.

Sexuelle Gewalt ist seit Jahren ein großes Thema in der breiten Öffentlichkeit. Politik, Wissenschaft und Fachpraxis haben vielfältige Initiativen zu weiterführender Forschung und Qualitätsentwicklung im Kinderschutz auf den Weg gebracht. Auch das Thema Übergriffe unter Kindern und Jugendliche spielt dabei eine zentrale Rolle. Sexuelle Gewalt zwischen Geschwisterkindern wird allerdings wenig in der (Fach-)Öffentlichkeit diskutiert, woran liegt das??

„Es gibt mehrere Gründe, warum das Thema in der Öffentlichkeit wenig diskutiert wird. Zunächst einmal hat es mit der generellen Tabuisierung des Themas sexuelle Gewalt und innerfamiliärer sexueller Gewalt zu tun. Dann gibt es das Tabu, dass Kinder und Jugendliche sexuelle Gewalt ausüben und schließlich das Tabu der sexuellen Gewalt in Geschwisterbeziehungen.

Innerhalb der betroffenen Familien gibt es große Scham, viele Schuldgefühle und Ängste. Zudem befinden sich die betroffenen Kinder in einem Loyalitätskonflikt. Sie haben oft eine enge Beziehung zu dem Geschwisterkind, wollen es nicht „verraten“ und wollen ihre Eltern schonen. So ist die Gefahr, dass nichts nach außen an die Öffentlichkeit dringt, groß.

Außerdem sind viele Fachkräfte noch nicht sensibilisiert und ausreichend geschult, um die Anzeichen zu erkennen bzw. wird die sexuelle Gewalt zwischen Geschwistern verharmlost und als „sexuelle Spielchen“ bewertet.“

Was sind die besonderen familiären Dynamiken in Fällen sexueller Gewalt zwischen Geschwisterkindern?

„Auf diese Frage fällt es mir schwer, kurz zu antworten. Ich versuche es. Wenn „Opfer“ und „Täter“ sich gleichzeitig im Familiensystem befinden, führt dies bei den Eltern zu massiven Loyalitätskonflikten. Die Notwendigkeit, sich bei Aufdeckung der sexuellen Gewalt mit der eigenen Verantwortung und mit Schuldgefühlen auseinandersetzen zu müssen, kann zu Bagatellisierung oder Verleugnung führen.

Die Aufdeckung löst bei allen Beteiligten viel Verwirrung und Angst aus. Der Wunsch, die Familie zu erhalten, eint oft alle Familienmitglieder. Sich aus diesem Dilemma zu befreien kann dazu führen, die sexuelle Gewalt zu leugnen.

Scham ist auch etwas, dass die Familie einen könnte. Nichts darf nach außen dringen, es gibt ein erneutes Familiengeheimnis. Jedes Familienmitglied hat Schuldgefühle und es werden sich gegenseitig Vorwürfe gemacht:

Das betroffene Kind macht den Eltern Vorwürfe, nicht geschützt zu haben. Gleichzeitig kämpft es mit den eigenen Schuldgefühlen, das übergriffige Geschwister verraten zu haben. Die Eltern machen sich gegenseitig Vorwürfe, nichts gesehen zu haben, dem betroffenen Kind, sich nicht gewehrt zu haben und nicht eher etwas gesagt zu haben sowie dem übergriffigen Kind, dass es der Familie „so etwas“ antut. Das übergriffige Kind macht dem betroffenen Kind Vorwürfe, es verraten zu haben, den Eltern, dass sie es nicht beachtet haben sowie sich selbst, die Familie zerstört zu haben.

Dazu kommt bei den Eltern noch das Gefühl, sich für ein Kind entscheiden zu müssen – ein Dilemma.

Ich empfehle zur Vertiefung das Buch von: Dr. Esther Klees und Thorsten Kettritz (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt durch Geschwister, Pabst 2018.“

Welche Hilfen braucht es für Familien und wie kann der Kinderschutz gesichert werden?

„Zunächst muss überprüft werden, ob das betroffene Kind ausreichend vor weiteren Übergriffen geschützt ist und das übergriffige Kind in der Familie bleiben kann. Dann wird die sogenannte „Mehrspurenhilfe“ als wirksames Mittel empfohlen. Das bedeutet, jedes beteiligte Mitglied der Familie bekommt eine eigene Begleitung. Die inhaltliche Arbeit muss dem jeweiligen Familiensystem angepasst werden. Dazu braucht es Angebote, Zeit, Personal und Geld.

Uns begegnen Familien, die einen hohen Leidensdruck haben. Wenn sie in der Beratung angekommen sind, haben sie sich auch schon ein bisschen entschieden etwas zu verändern. Jetzt gilt es, sie darin zu bestärken, anzuerkennen, dass sie bereit sind sich den schwierigen Themen Sexualität, sexueller Gewalt und sexueller Gewalt innerhalb ihrer Familie zu stellen.

Die Familie fühlt sich oft von den Dingen, die sie nun zu erledigen haben, überfordert und befindet sich emotional in einem Ausnahmezustand. Eltern stellen ihre Erziehungsfähigkeit infrage und haben Schuldgefühle, nicht geschützt und nicht gewusst zu haben, nicht auf frühe Hinweise eingegangen zu sein und/oder sie bagatellisiert zu haben.

Es muss generell viel gefragt werden, da die Helfenden viel über die Familie und die einzelnen Familienmitglieder wissen müssen, um pädagogisch-therapeutische Arbeitswege festzulegen.

Wenn es gelingt, die Familien zu motivieren und ihnen ein Angebot zu machen, in dem sie sich sicher und nicht verurteilt fühlen, und sie keine Angst vor Ablehnung und Strafe haben, dann ist es möglich gute Wege zu finden, um das Ereignis in die Familiengeschichte zu integrieren.“

Herzlichen Dank!

Esther de Vries ist Dipl. Sozialpädagogin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie ist seit 1993 beim Kinderschutz-Zentrum Osnabrück tätig. Ihre Expertise bringt sie als Referentin bei unserer hybriden 7. Jahreskonferenz vom 12.-13. Juni 2025 in ihrem Vortrag zum Thema „Sexuelle Gewalt durch Geschwisterkinder“ ein.

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Hinweis: Die Präsenzplätze sind bereits ausgebucht, eine Teilnahme an dem Fachkongress ist nur noch digital möglich.