Viel Gehör für ein stilles Tabu: Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Familie

Kongressrückblick

Innerfamiliale sexuelle Gewalt als fachliche Herausforderung und (immer noch) tabuisiertes Thema

Im Kinderschutz-Zentrum Osnabrück machten Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in den letzten fünf Jahren knapp die Hälfte aller Beratungsanlässe (38 bis 47 Prozent) aus. Diese Gewaltform bildet damit und im Vergleich zu anderen Gewaltformen wie körperliche Gewalt, Partnerschaftsgewalt oder auch Vernachlässigung den Arbeitsschwerpunkt.

Ein näherer Blick auf die 113 beratenen Fälle von sexueller Gewalt im Jahr 2024 zeigt außerdem: Die Gewalterfahrungen waren überwiegend Übergriffe unter Geschwistern, das Verbreiten von Missbrauchsabbildungen, Masturbationshandlungen vor und mit dem Kind sowie direkter Verkehr – und alle diese Formen fanden im innerfamilialen Kontext statt.

Innerfamiliale sexuelle Gewalt gehört zu den größten Herausforderungen unserer Arbeit in der Beratungsstelle, weil sie nach der Aufdeckung umgehend eine enorme Dynamik im Sinne einer ‚emotionalen Wucht‘ im Familiensystem erzeugt. Das dazugehörige Helfer*innensystem gerät meistens unter massiven Handlungsdruck, so dass es immer wieder eine Aufgabe darstellt, Ruhe zu bewahren, um die Kinder wirksam schützen zu können. Die Erfahrung zeigt, dass ein Aktionismus unter den Beteiligten den Kindern viel mehr schadet als nützt“, so Anell Havekost, Diplom-Psychologin und Leiterin des Kinderschutz-Zentrums Osnabrück.

Im Eröffnungsvortrag des Fachkongresses untermauert Dirk Bange, Leiter des Amtes für Familie Hamburg und seit vielen Jahren renommierter Forscher im Feld, die Erfahrungen aus der Praxis mit aktuellen Forschungsbefunden: Innerfamiliale sexuelle Gewalt ist die häufigste Form sexuellen Kindesmissbrauchs. Die Übergriffe in der Familie beginnen im Durchschnitt früher als bei außerfamilialer sexueller Gewalt, bei einem nicht unerheblichen Teil bereits im Säuglings- und Kleinkindalter. Es handelt sich zudem um die am längsten, meist über mehrere Jahre andauernde, oftmals verdeckte und mit den für die betroffenen Kinder schwersten Folgen gekennzeichnete Gewaltform im Bereich der sexuellen Gewalt. Häufig wird in der Forschung jedoch nicht genau differenziert zwischen institutioneller und innerfamilialer Gewalt sowie der besondere Kontext der Familie mit seinen spezifischen Beziehungsdynamiken zu wenig berücksichtigt. Ist das Tabu der innerfamilialen sexuellen Gewalt wirklich überwunden? Dieser Frage widmete sich Dirk Bange ebenfalls und forderte u. a. eine stärkere Sensibilisierung für die Dynamiken und Folgen dieser Gewalterfahrung, den Abbau von Opferstigmatisierungen, fundierte Qualifizierung von Fachkräften und den Ausbau von Beratungs- und Therapieangeboten für Kinder. Auch die Aufarbeitung braucht für diese Problematik eine weitere Konzeptdiskussion.

Die hybride 7. Jahreskonferenz zum Thema „Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Familie – Dynamiken, Prävention und Intervention“ fand vom 12.-13. Juni 2025 in Kooperation mit dem Kinderschutz-Zentrum Osnabrück und rund 300 Teilnehmer*innen statt.

Rückblick auf das Programm

Komplexe Dynamiken durch neue Perspektiven verstehen

Ein besonderes Anliegen der 7. Jahreskonferenz war es, die Gewaltdynamik in seiner Spezifik und vor allem aus bislang zu wenig im fachlichen und im wissenschaftlichen Diskurs vertretenen Perspektiven zu beleuchten.

Eine thematische Vertiefung schaffte Dipl. Sozialpädagogin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Esther de Vries in ihrem Vortrag. Sie ist seit 1993 beim Kinderschutz-Zentrum Osnabrück tätig und beleuchtete mit ihrer besonderen Expertise und langjährigen Praxiserfahrung in der Arbeit mit gewaltbetroffenen und sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen die Dynamiken von Sexueller Gewalt durch Geschwisterkinder. Diese gilt als die häufigste Form innerfamiliärer sexueller Gewalt und birgt besondere Herausforderungen, da sie häufig nicht als diese erkannt und in besonderem Maße gesellschaftlich tabuisiert wird. Warum wird trotz diesen Erkenntnissen das Thema nur so wenig in der (Fach-)Öffentlichkeit diskutiert? Antworten auf unter anderem diese Frage können Sie in einem Kurzinterview mit Esther de Vries nachlesen.

Ein weiteres eher vernachlässigtes Themenfeld ist die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Mütter. Dr. Jelena Gerke von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm forscht zu diesem Thema und beginnt ihren Vortrag mit einer Übung zur Selbstreflexion. Denn es seien insbesondere gängige Geschlechterstereotype, soziale Überzeugungen und idealisierte Skripte der „schützenden Mutter“ sowie eines „angemessenen“ weiblichen (Sexual-)Verhaltens, die sexuelle Gewalt durch Mütter unvorstellbar machen. Insbesondere auch für Fachkräfte sei es daher wichtig, ihre Einschätzung von Gewalthandlungen im Kontext des Geschlechts zu reflektieren. Dr. Jelena Gerke gab außerdem Einblicke in ihre Forschungsergebnisse. Demnach liege die Anzahl des Missbrauchs durch Täterinnen bei 9,9%, wovon 26,1% der Gewaltausübenden als „leibliche Mütter“ betitelt wurden. Zudem sei das Gewalthandeln von Frauen und Männern ähnlicher als bisher angenommen.

Max Mehrick hat als Kind innerfamiliale und institutionelle Gewalt selbst erlebt. Heute spricht und schreibt er als Referent und Autor offen über seine Erfahrungen. Mit seiner Perspektive als Betroffener verdeutlichte er in einem weiteren Vortrag die enormen Auswirkungen eines gewaltvollen Aufwachsens auf die kindliche Entwicklung: „In diesem Klima war es kaum möglich eigene Grenzen zu erkennen, geschweige denn sie zu setzen“, so Mehrick.

Kurzinterview

Ausblick und Zwischenruf: Prävention und frühe Bildung stärken!

Der Prävention kommt auch in diesem Feld eine hohe Bedeutung zu. Durch den Auftritt der Theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück, die seit vielen Jahren bundesweit sehr erfolgreich Präventionsprojekte anbietet, gelang dies auf anschauliche Weise. Ausschnitte aus dem Theaterstück „Lille und Leo“, einem vereinfachten Präventionsprogramm, das Kinder mit besonderem Förderbedarf für sexualisierte Gewalt sensibilisiert, zeigten authentisch, wie eine altersgerechte Aufklärung für dieses sehr schwierige Thema gelingen kann.

Fachkongresse sind immer auch ein Raum für Impulse und Austausch über das Kongressprogramm hinweg. Deutlich wurde, dass ein Thema aktuell viele Referent*innen und Teilnehmer*innen beschäftigt und sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zog: Die zunehmende Vereinnahmung von wichtigen gesellschaftspolitischen Diskursen und öffentliche Ablehnung von Vielfalt und Sexueller Bildung durch rechtspopulistische Akteur*innen. Sowohl aus wissenschaftlicher Perspektive als auch der Fachpraxis wurde diese Entwicklung benannt und scharf verurteilt. Die Instrumentalisierung von Kinderschutz als Deckmantel rechtspopulistischer Ideologien führt nicht nur zu einer großen Verunsicherung, sondern gefährdet den Schutz von Kindern und Jugendlichen und führt zu einer konkreten Bedrohung von Fachkräften und Einrichtungen, die sich mit sexualpädagogischen Konzepten beschäftigen. Dieser Entwicklung ist entschieden entgegenzutreten. Eine klare Botschaft, die wir in dem Zwischenruf „Fürsorge als Fassade: Wenn Kinderschutz zum Deckmantel rechtspopulistischer Ideologien wird“ noch einmal kontextualisiert und verdeutlicht haben.

Das rege Teilnahmeinteresse, die vielen starken Stimmen aus Forschung und Praxis, der rege interdisziplinäre Austausch und die vielen positiven Rückmeldungen verdeutlichen, wie wichtig es ist, diesem gesamtgesellschaftlich tabuisierten Thema einen Raum und praxisorientierten Ausblick zu geben.

Zugleich wurde deutlich, dass mit Blick auf die aktuelle Debattenlandschaft eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema der innerfamilialen sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen von Fachpraxis, Forschung und Fachpolitik vonnöten ist: Eine stärkere öffentliche Sensibilisierung und Prävention, weitere dezidierte Forschung zu besonderen Problematiken sowie die Qualifizierung und der Ausbau einer bedarfsgerechten Beratungslandschaft.

Vielen Dank an alle Teilnehmer*innen und Referent*innen, dass Sie unsere Veranstaltungen so lebendig machen!

Zwischenruf

Der Fachkongress wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.